VITA: Claudia Leoni-Scheiber ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin (Intensivpflege), Pflegepädagogin und Pflegewissenschaftlerin. Sie promovierte an der Universität Wien zum Effekt der Schulungsmethode Guided Clinical Reasoning auf die Einstellung und das Wissen von DGKP zum Advanced Nursing Process sowie auf die Qualität von Pflegediagnosen, -interventionen und Pflegeergebnissen. Ihr Dissertationsprojekt führte sie am Stadtspital Waid in Zürich durch. Aktuell ist sie an der Tiroler Privatuniversität UMIT-Tirol Koordinatorin am FH-Standort Reutte.
Vortragstitel: Pflege in Österreich: das prolongierte Desaster
Dauer des Vortrages: 45 min.
Wesentliche Inhalte: Desaster steht für Katastrophe. In der Literaturwissenschaft wird darunter eine entscheidende Wendung, hin zum Schlimmen verstanden (Oxford Languages). Eingeläutet wurde diese vor mehr als dreißig Jahren, durch neue Finanzierungssysteme und durch Rationalisierungsmaßnahmen wie dem Personalabbau zur Steigerung der Effizienz der Unternehmen. In Österreich wurde das LKF-System, die Leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung, in Deutschland und der Schweiz die DRGs oder Diagnosebezogene Fallgruppen eingeführt. Eine deutlich gestiegene Patientenfluktuation bei parallel verkürzter Krankenhausaufenthaltsdauer führte zur drastischen Reduktion bedeutsamer Pflegeinterventionen. Nur mehr jede*r vierte Patient*in wurde angeleitet, zwei von drei mobilisiert und drei von vier wurden bei der Nahrungsaufnahme unterstützt (Abele & Blumenfeld, 2013; Brügger, 2010). Das nährt Unzufriedenheit und führt zum Berufsausstieg von Pflegenden. Müssen dann mehr als ein Dutzend chirurgischer Patient*innen von einer diplomierten Pflegefachperson versorgt werden, ist die Sterbewahrscheinlichkeit um 26 % höher im Vergleich zur Versorgung von durchschnittlich 8,4 Patient*innen (Griffiths et al., 2017).
Mittlerweile ist die Krise der Pflege auch in Österreichs Politik angekommen. Der ausgeprägte Mangel an Pflegepersonen ist jedoch kein österreichisches Phänomen, sondern ein globales. Weltweit wird bis 2030 von bis zu 30 Millionen fehlenden Pflegenden berichtet. Eine logische Konsequenz scheint die Forderung der WHO, dass Pflegende im eigenen Land ausgebildet und im Beruf gehalten und wirtschaftlich schwächere Länder nicht ihrer Arbeitskräfte im Gesundheitswesen beraubt werden (Aistleithner & Pfabigan, 2016). Die Kombination aus fehlenden Pflegepersonen mit den bekannten demographischen Veränderungen sowie maßgeblichen Strukturmängeln (zu viele Krankenhausbetten, mangelnde Primärversorgung im Fokus von Public Health) führt zu rudimentären Gesundheitsergebnissen der Bevölkerung und das Gesundheitssystem an den Rand der Belastung. So erfolgen deutlich mehr als die Hälfte aller Rettungstransporte außerhalb der Praxisöffnungszeiten und führen zu 93 % in die Spitalsambulanzen (Schmied, 4. 2023). Österreich weist die höchste Anzahl an Diabetes assoziierten Majoramputationen der unteren Extremität aller europäischen Staaten auf (OECD, 2021). Besonders bedenklich, da Diabetes mellitus als idealer Indikator zur Bewertung der Effektivität eines Gesundheitssystems gilt (Balabanova 2009; Kühlbrandt 2014 zit. n. Stigler, 2019). Auswege aus der Krise sind eine gesetzlich geregelte Nurse-to-Patient Ratio, eine signifikante Verbesserung der Rahmenbedingungen und die Verankerung der Pflege im strategischen Management mit handelsrechtlicher Vollmacht in den Unternehmen.